Ich heiße Eurasia

Phantasie für Eurasia? Ja fantastisch. Mein Papa Türkeifan: Zu Zeiten von Kemal Atatürk. Mama aus Fernost. Ich trage in meinem Rufnamen beide wichtigen geopolitischen Regionen und Kontinente. Mein Alter stammt aus dem europäischen Istanbul. Meine Mutter aus Djakarta (Jakarta). Mein Vater: Diplomat. Mama: Haushälterin mit Diplom. Er fand einen ordentlichen und geregelten Haushalt; als Nonplusultra seiner Privatsphäre. Immer. Sein plötzlicher Tod an Bord einer Propellermaschine zurück aus Anatolien – er wurde gekillt: Gurgelschnitt in Ruheposition, der Täter entkam bei der Landung – hinterliess ein kurzzeitiges familiäres Trauma.

Meine Mutter im Alter von 70 Jahren
Meine Mutter im Alter von 70 Jahren

Im Hause meiner Mutter standen schon damals, gleich nach dem Attentat, ohne jegliche Pietät, die Freier Schlange: Alleinerziehende mit Kleinkind! Nicht ein einziger Bewerber interessierte sich für mich, geschweige Mamas Vorgeschichte. Hübsch- und Schönsein reichte, exotisch und erotisch ergänzten sich in ästhetischer Komplexität. Diese dumm-eitlen Liebhaber und Möchtegerne, Homer lässt grüssen. Keiner kam bei ihr durch. Bis sie einem Laufburschen einer an Gott reichen Familie erlag.

Mustafa, ja so hiess der Laufbursche, ersetzte mir den Vater, den ich heute kaum erinnere. Meine Mutter trägt beide im Herzen, und die Gegenwart ist stark und die Vergangenheit schweigt.

Ende 1933 entkam ich endlich dem Bauch meiner Mutter. Mein Vater starb am 10. November 1938, meine Eltern heirateten acht Jahre zuvor. Im zarten Alter von fünf Jahren – wir feierten gerade meinen Geburtstag am Todestag meines unbekannt geliebten Vaters – tauchte wie aus dem Nichts Mustafa auf, ein geradliniger Kerl von kaum zwanzig Jahren, den ich, ich konnte nicht anders, in mein Herz schloss.

Meine Mama stammt aus einigermassen gut situierten familiären Verhältnissen. Die Wurzeln finden sich in Bali. In Jakarta lebte sie seit ihrer Geburt im Jahr 1910. Sie verliebte sich in Papa, er in sie. Sie ging mit ihm nach Istanbul.

1939 lief Mustafa daher. Kaum ein Jahr nach Papas Ermordung. Er überbrachte eine amtliche Mitteilung, dass die Untersuchungen zum Todesfall eingestellt worden seien. Ausser dem türkischen Justizministerium und meiner Mutter kennt niemand den sachbezogenen Inhalt des Schreibens. Sie offenbarte sich nie. Nicht mir gegenüber, noch Mustafa.

Sie las. Sie verwahrte die Papiere in einer Schatulle aus Elfenbein in ihrem Tresor. Gemeinsam mit ihrer Korrespondenz ihres Mannes. Mustafa blieb und wartete auf Anweisungen. Meine Mama wies ihn an, ihr Gemach zu teilen. Seither leben beide in wilder Ehe und tun es noch heute.

Die Spaziergänge mit Mustafa. Der Gang zu den Märkten, den Einkäufen. Die kindliche Hand in der Hand eines Jünglings. Der Rucksack voller Obst und Gemüse. Pistazien und Sonnenblumen. Wenn es sie gab. Sie lugten aus dem Verschluss hervor. Lebensmittel für mehrere Tage. Unsere Haushälterin übernahm. Mama führte die Geschäfte einer kleinen Firma. Wir sahen sie selten. So blieb mir Mustafa.

An Sonntagen, an denen meine Mutter zu Hause sich aufhielt, war er wie plötzlich verschwunden. Da fehlte er mir und ich fühlte mich allein und nutzlos. Ich verstand, so ist das Leben. Warum sollte ich eifersüchtig sein? Montags klopfte er früh an die Tür meines Kinderzimmers. Aufstehen. Frühstück, Schule. Ich freute mich, ich freute mich auf den gemeinsamen Weg zu den Klassenkameraden und Kameradinnen. Er führte mich hin, er brachte mich heim, Hand in Hand, immer.

Immer. Er fragte mich, wie läuft es im Unterricht. Im Rechnen. Im Lesen. Dann zeigte ich ihm meine Hefte schon auf der Strasse und er lächelte beruhigt. Im Lernen ging ich meiner Wege. Wie mein Vater. Für ihn existierte lernen als wundervolles Ereignis, nicht nur schulisch. Was für ein Erbe hinterliess er mir, eine Gabe für die Ewigkeit!

Meine Mama überbordete selbst den weit gesteckten Rahmen der Liebe. Sie huldigte diesem Ideal. Wenn sie keine Zeit dafür hatte, ging sie ihren Geschäften nach. Obwohl offensichtlich – Mama handelte erfolgreich mit afghanischen Teppichen – blieb doch vieles im Geheimen. Was trieb sie in ihrem Innersten? Teppiche als Tarnung. Sie war auf der Suche nach ihrem Mann, meinem Vater, indem sie ihn suchte, suchte sie seinen Mörder. Ihren Mörder. Wie sollte das funktionieren, so lange danach?

Trauma, nein. Meine Mutter zeigte sich handlungsreich. Mit Mustafa fand sie einen bedingungslosen Geliebten, der ihr ihre täglichen Sorgen zu nehmen wusste. Sie liebte die Konzentration. Im Zentrum ihres Lebens dominierte ihr getöteter Gatte. Nicht Rache. Aufklärung. Wer tötete, wer beauftragte, welcher Typ von Mensch fand sich bereit, einen feigen Mord gegen Bezahlung auszuführen? Oder doch ein Einzeltäter?

Mit den Teppichen begann die Suche.

Die ach so erfolgreichen staatlichen Ermittlungsbehörden stellten eines klar: Das Flugzeug fungierte als gecharterte Frachtmaschine, mit wenigen Plätzen für Fluggäste. Wer flog ausser den tonnenschweren Teppichen neben der Crew und den Flugbegleitern nach der türkischen Metropole am Bosporus? Nicht so sehr die Beantwortung der Frage nach den Namen der Insassen, sondern die exakte Herkunft der Ware, schien ihr von grösster Bedeutung. Afghanistan.

BamiyanVor 45 Jahren wurde ich nach Afghanistan gefahren. Per Anhalter nach Kabul, einer damaligen Hippie-Hauptstadt. In Wien lud mich ein Handelsreisender – Teppiche, alte Schiessgewehre – in seinen VW-Kastenwagen. Das hintere Fahrzeugteil fungierte als Schlafzimmer, unter der Bettstatt jede Menge Stauraum. Der Besitzer und seine liebliche Frau fuhren bereits zu dritt. Ein männliches Blumenkind aus den USA. Trampen schien eine Leidenschaft von ihm. Zu viert nahmen wir die Balkanroute nach Istanbul. Geschlafen wurde an Bord und im Freien. Die Reiseroute von damals ist hinlänglich bekannt. Dann erreichten wir Herat. Und Kandahar, Kabul.

Ich seilte mich ab. Wollte Buddha sehen. Ihm aufs Haupt steigen. In die Ferne blicken. Nach Süden. Die fruchtbare Ebene. Ins Nirwana. Die Berge. Das Tal von Bamiyan. Ja, ich stieg ihm aufs Haupt. Oben zückte ich den vorbereiteten Hippie-Joint. In dieser Höhenluft legal. Kein feindlicher Russe da. Kein Ami, kein Taliban. Kein Mudschahed. Kein König. Nur Friede. Ich bin kein religiöser Mensch, mit vierzehn trat ich aus der Kirche aus, doch respektvoll. Oben suchte ich Erleuchtung und Erleichterung. Da wurde mir bewusst: Erleuchtung findest du bei dir selbst. Seither blieb es bei Respekt. Toleranz. Warum sollte ich töten wollen? Warum? Und wen? Für mich gibt es keine Feinde. Vielleicht werde ich sie in meinem Lebensrest noch kennenlernen. Und doch. Unsere Welt ist zerstritten wie immer. Die örtlich und regional geführten kriegerischen Auseinandersetzungen, nur die, die per Television ans Tageslicht kommen, sie reichen zur Genüge, um von einem dritten Weltkrieg zu denken. Bedarf es einer Aufzählung? Die Liste würde ellenlang. Damals in Afghanistan: Flower-Power. Nicht Blumen regierten das Land. Friede regierte. Können wir uns das heute vorstellen. Eine waffenstarrende Welt. Am Bodensee entsteht unermesslicher Reichtum. Die Waffenproduktion, egal wo, beschleunigt sich von selbst. Wo ein Markt sich auftut, wird geliefert.

Auf dem Weisheitskopf des erhabenen Religionsstifters: Friede. Ein Jahrhunderte dauernder Appell.

Den meisten ist es gleich, sie schiessen lieber, das ist eine andere Art von Selbstbefriedigung, mit Ruhe und Glückseligkeit haben sie nichts am Hut. Der Nächste kann näher nicht sein als tot.

Fortsetzung folgt irgendwann demnächst …

Heute! Tausend Wörter, dazu verpflichtete sich London tagtäglich, ab morgens in der Früh bis die Menge abgearbeitet war. Ja, der helle Wahnsinn; in zehn Tagen zehntausend Wörter in wahnwitzigen Sätzen zusammengesetzt und literarisch präsentiert. Selbst ein Orkan hemmte ihn nicht, er schrieb unverdrossen, und der Sturm wurde schwach und schwächer. Er pflegte dieses Ritual bis er zu kränkeln begann. Bis an sein frühzeitiges Ende.

Er notierte handschriftlich. Wie bestätigte er sich sein tägliches Vorhaben? Zählte er nach? Oder wusste er, dass fünf Seiten eng beschriebenes Papier seien Erfolg auswiesen? Man möge sich mal hinsetzen und 1000 Wörter in den PC eingeben. Die Wortanzahl wird permanent erfasst und es scheint, man erreiche das Ziel nicht. Der Drang, den Zielstrich zu erreichen, lässt dich weiter tippen, gleichgültig: der Inhalt, die Meinung, die Spannung. So lässt sich Spitzenliteratur nicht schreiben, London formuliert seine Gedanken, der Text befindet sich in seiner Seele, seinem Hirn. Er wird zur täglichen Maschine. Ohne diesen maschinellen Einsatz keine Weltliteratur. So arbeitet er sich ständig sein Hirn leer, um am darauffolgenden Tag die nächste Etappe zu bewältigen. Das geht solange, bis das Werk – eine Kurzgeschichte, ein Roman, ein Gedicht – fertiggestellt. 

 

 

 

 

EURASIA   = Tochter *10.11.1933

VATER       = +10.11.1938

MUTTER   = *1910

EHE            = 10.03.1930

MUSTAFA = Laufbursche, *1919