Mein Name ist Jorge. Ich kränkele leicht. Meine Mutter Anna brachte mich in Paraguay zur Welt. Ich kenne sie nicht. Sie starb; kurz vor meiner Geburt. Nicht mal ein Foto besitze ich von ihr. Mein Geburtsort liegt irgendwo in der Pampa. Bald nachdem ich das bekannte Licht der Welt erblickte – ellenlang her – nahm mich eine Familie in Deutschland zu sich. Da war ich noch untergewichtig. Was Wunder, dass ich die Seereise überstand. Heute lebe ich in Mannheim. Als alter Knacker. Ohne Familienbande. Allein in einem Mehrfamilienhaus. Sieben Kinder beleben mit Geschrei, Gebrüll und Getrampel das alte Gemäuer. Die Menschen, die ich im Treppenhaus zu Gesicht bekomme, grüssen angespannt. Und nehmen ihre Wege. Sie sind desinteressiert. Ich scheine ihnen gleichgültig. Die Kinder: alle irgendwie krank. Ein Junge schielt. Drei Hunde bellen ohne Unterlass. Zur Begrüssung. Beim Gassi gehen. Wenn sie anschlagen.
In meiner Dreizimmerwohnung hause ich seit über einem Vierteljahrhundert. Oft überlege ich, ob ich untervermiete. An einen Fremdling, eine Fremde. Das Alleinsein nagt meine Seele kaputt. Doch ich kann der Einsamkeit nicht entrinnen. Mutlos wie ich scheine, bringe ich es nicht übers Herz. Das mit der Untervermietung. Ich wäge hin und her. Es reicht nicht, ich entschliesse mich immer für das Nichtstun: Dies spannungslose Dasein. Mit jeder Sekunde und Stunde richte ich mich ein. Es wird nichts mit der Fremden, dem Fremdling. Diese Beziehungslosigkeit. Sie schreibt sich mir ins Gemüt. Seit meiner Geburt eigentlich. Wie ich vermute. Geformt in Paraguay. Gelebt in Deutschland. An einer extremen Strassenecke. Hier saust die Welt vorbei. Die meisten Fahrer hocken alleine in ihrem faradayschen Käfig. Wie ich in der Dreizimmerwohnung. Sie leben in rasenden Momenten dynamisch, ich statisch. Meine Dynamik lediglich: heisst Fahrrad. Es besitzt nicht eine Pferdestärke. Von Menschenstärke kann bei mir nicht mehr die Rede sein. Die übrig gebliebene Energie lässt mich keine langen Strecken radeln. Zum Einkauf, das reicht dann. Gut, dass ich mich noch versorgen und verpflegen kann.
Vor Jahren auf dem Heimweg von einer Ausstellungseröffnung: Ich sitze in einem geräumigen Privatbus. An einer Haltestelle gleich neben der Galerie sehe ich ein männliches Liebespaar, zwei Künstler der Vernissage. Ich bitte meinen Fahrer anzuhalten, sie mitzunehmen. Er gibt Gas. Warum schreie ich nicht, halte an du mickriger Fuck. Und lasse mich aussteigen. Der Fuck bin ich. So ist das mit dem Kränkeln. Ich wäre zur Station und hätte den beiden Malern meine Solidarität bekundet. Ich konnte nicht schreien, es kam mir nicht in den Sinn. So ist das mit dem Kränkeln.
Ich lebe seit meiner Geburt mit einem Hexenschuss. Kein Schuss, der mich über die Jahre getötet hätte. Wenn die Hexe heute kreischt, reiche ich ihr einen Joint; darauf ist sie weg. Und ich laufe ohne Schwierigkeit. Früher halfen Medikamente, mancher Arzt spritzte. Heute tut es eine mit Marihuana gefüllte Spezialzigarette. Ich kränkele eben leicht. Kälte wäre mein Tod. Ich lese eine Meldung in den Nachrichten: Total alkoholisierte Frau am Flussufer erfroren. Eisschollen treiben entlang. Blackout. Suicid?
In Mannheim fühle ich mich heimisch und wieder nicht. Das zeugt von einem ewigen Gezeter. Mal so und mal so. Mannheim bringt mir die Welt, diese Stadt: als Exempel für alles nicht Gesehene. Wahrzeichen, löchrige Strassen, ein Restbestand überkommener Gebäude, Schlösser, Hirngespinste moderner Architektur, Dreck, aus- und wieder eingegliederte Stadtteile, Internationalität, VielVölkerStadt. In diesem Kuddelmuddel lebe ich so vor mich hin. Links ein Waschsalon, rechts eine Spielhölle. Drüben ein Kiosk. Kaum ein Baum.
Es dreht sich oft mit unglaublicher Geschwindigkeit. Ein Karussell mit gewaltigen Rotationskräften. Ich fliege und weiss nicht wohin. Und wissen wir nicht alle, wohin wir geschleudert werden? Früher endete das Leben mit vierzig, fünfzig. Heute mit neunzig, mit viel Lebensenergie mit hundert. Und ab achtzig? Können wir noch schreiben mit achtzig? Beherrschen wir das Alphabet in diesem Alter oder sind die Buchstaben längst vergessen? Und was ist mit Magersucht? Ich bin dicklich, nicht fett, eher leicht muskulös, zum Radfahren reicht’s noch. Manchmal strenge ich mich an und radle dem Neckar oder dem Rhein entlang. Sofern die Sonne lacht. Da vergesse ich mein leichtes Kranksein. Und feiere eine Art Wiederauferstehung. Für kurze Zeit. Bis die Hexe sich ankündigt. Dann zücke ich einen Joint.
Mit Freundinnen und Freunden segnet Gott mich reich. Selten, dass ich sie zu Gesicht bekomme. Sie sind wie Seltene Erden. Immer muss ich buddeln; wenn ich sie ausgraben will. Ich pflege meine Freundschaften. Ohne Besuche funktioniert das nicht. Deshalb berappel ich mich. Und nehme die öffentlichen Verkehrsmittel. Wenn ich lustig bin und klar ist, dass ich mit meiner Laune zu einer gesegneten Zusammenkunft beitrage. Ab und an klappt es mit einer derartigen Unternehmung. Kräftezehrend wohl. Am Ende oft befriedigend. Nicht nur für mich.
Ohne zwischenmenschliche Berührungen führt das Leben in den Abgrund. Ich bin kein Kaspar Hauser. Sprechen ist Notwendigkeit. Unerlässlich. In der Häufung: Gelaber meist und Geschwätz. Wenn ich mir vorstelle, all die Wortungetüme müssten entsorgt und auf einer Müllhalde abgelagert werden, wir wären schon längst unter umgestürzten Wort-, Satz- und Begriffshochhäusern begraben. Der Schall trägt das Gerede ins All. Nur die Erinnerung bleibt, vielleicht.
Wenn etwas nagt, dann ist es Einsamkeit. Einsamkeit ist keine Maus, sie ist eine Ratte mit Flöhen.
Irgendwann – wahrscheinlich im Mittelalter, oder lange zuvor – verbreitete sie sich unaufhaltsam rund um den Erdball, die kälteren Regionen mal ausgenommen. Sie besiedelte Kontinente, wo sie nicht hingehörte. Mit den Eroberungen europäischer Konquistadoren egal welcher Herkunft: begann der Siegeszug der Einsamkeit. Einher damit gingen Mord und Totschlag. Und Syphilis. Das bekam selbst Gauguin zu spüren. Die Ratte wuselte plötzlich überall. In vielen europäischen Städten stellen heute die Magistrate Rattenfallen auf, mit denen dann Kinder spielen und die Erwachsenen lächeln dabei.
Ich fasse es nicht: Allenthalben überschlagen sich die Medien zurzeit mit Titeln wie Altersarmut, Grundsicherung im Alter, Rente ab irgendwann, Überalterung der Gesellschaften: Japan in Führung, Deutschland an zweiter Stelle, Arbeiten mit achtzig Jahren noch? Nicht, dass der Mensch da dann nicht mehr könnte, er will und er muss mitunter, weil’s Geld nicht reicht. Die Überalterungsgesellschaften verzehren ihre Generationen, manche betteln geradezu um Zuwanderung, die Deutschen sterben aus, las ich mal im Spiegel. Das kann man vielleicht so sehen, die Frage lautet: Deutsche welcher Herkunft sterben aus? Die Deutschen türkischer, italienischer, griechischer Herkunft sterben bestimmt nicht aus. Also: keine Ängste, die Deutsche Nation wird weiter existieren und die Haut- und Augenfarben werden dunkler werden. Das ist dann nicht mehr der Jorge, der lebt, nicht der Schweinsteiger, eher schon der Özil und der Mustafa, der Giovanni und der Adonis. Und dann: wenn alle die Sprache Karls des Grossen perfekt beherrschen? Was ist dann? – Die Welt wird sich weiter internationalisieren, nicht nur wirtschaftlich, vor allem kriegerisch. Diese Sprachen beherrscht allein der Mensch bis zur tödlichen Perfektion.
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Seit Ende der vierziger Jahre lebte ich zwei Jahrzehnte bei einem bestens situierten Ehepaar. Adolph, der Familienvorstand, leitete seine eigene Bank. Er spekulierte im Bauwesen als Finanzier, unterhielt einen Fuhrpark mit den neuesten Karossen der aufblühenden Automobilindustrie, liess sich eine riesige Villa bauen – wir sahen ihn selten – und tyrannisierte seine Frau Adele und uns drei Kinder. Das Paar bekam Ende des zweiten Weltkrieges Zwillinge, Mädchen, und mich ein paar Jahre später. Als Adoptivkind. Es begann eine Zeit des Entsetzens für mich. Die beiden Mädchen hassten mich. Für sie erschien ich als Störenfried. Sie quälten und schlugen mich, bis es mir eines Tages zu bunt wurde. Ich wehrte mich mit Faustschlägen gezielt mitten in die Gesichter der beiden Quälgeister. Nasenbeinbruch bei der einen, ein blaues Auge bei der Schwester. Die Folge: eine mittelalterliche Prügelstrafe durch den Haustyrann. Danach kehrte Ruhe ein. Für die Zwillinge mutierte ich zum dunkelhäutigen Prinzen aus einer fernen Welt. Adele bewunderte mich ob meiner deftigen Gegenwehr. Und der Boss liess mir Privatunterricht angedeihen. Das war der Beginn einer wunderlichen schulischen Karriere. Übersprang ich gleich zwei Klassen, und meine Deutschkenntnisse übertrafen die der Zwillinge um ein Mehrfaches. Das brachte mir Ruhm und Ehre und ein super Abitur. Damit verliess ich meine Gönner, verschwand aus ihrem Leben und stellte mich auf meine Hinterfüsse. Nie mehr sah ich sie, noch hörte ich von ihnen.
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